Die partizipative Marktwirtschaft

Auszug aus meinem Buch „Die partizipative Marktwirtschaft“

„Es ist schön, den Augen dessen zu begegnen, dem man soeben
etwas geschenkt hat.“
— Jean de La Bruyère
Nicht hoch genug eingeschätzt werden können die soziopsychologischen
Implikationen, die die Einführung eines bedingungsfreien Grundeinkommens
mit sich bringt.
In unserer Gesellschaft gibt es zwar keinen Arbeitszwang. Der Druck,
der auf die arbeitende Bevölkerung durch die im Raum stehende Drohung
„Hartz IV“, finanzielle Verpflichtungen und selbstgemachter Druck durch
Rollenerwartungen („ich muss die Familie ernähren“) existiert, ebenso wie
der Druck, der auf Arbeitslose selbst ausgeübt wird, kommt aber einem
gefühlten Arbeitszwang in den westlichen Industrienationen gleich. Wenig
ist den meisten bewusst, wie dieser Zwang im alltäglichen Sprachgebrauch
wiederzufinden ist. „Ich kann heute Abend nicht lange bleiben, weil ich
muss morgen wieder zur Arbeit“ ist ein häufig verwendeter Satz. Warum
müssen wir eigentlich stets morgen in die Arbeit, warum wollen wir nicht?
Es ist klar erwiesen, dass Arbeit als Lebensbestandteil, der identitäts- und
sinnstiftend ist, wahrgenommen wird. Die allerwenigsten Menschen wollen
nicht arbeiten. Die meisten Millionäre arbeiten trotz ihres Vermögens
weiter. Und dennoch wird Arbeit auch im 21. Jahrhundert noch mit Mühsal
und Anstrengung anstatt mit Selbstverwirklichung, Talententfaltung
und Sinnstiftung in Verbindung gebracht.
Und allein in Deutschland stehen wahrscheinlich Woche für Woche, Tag
für Tag Millionen Menschen frühmorgens nur deshalb auf, weil sie eine
Gehaltsüberweisung benötigen und nicht, weil sie ihre Talente entfalten oder aus intrinsischer Motivation ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten wollen.

Ein Bedingungsfreies Grundeinkommen (BGE) wird viele Menschen
in die Lage versetzen, ihre derzeitige, ungeliebte Tätigkeit aufzugeben
zugunsten eines Berufes, der der persönlichen Berufung entspricht.

Ein BGE kann ferner als eine Aussöhnung zwischen Sozialismus und Kapitalismus
betrachtet werden. Mit einem BGE könnten wirtschaftsliberale
Prämissen, die gegenwärtig eine Lüge sind, wahr werden. Laut John Stuart
Mill und Adam Smith seien in jeder modernen Wirtschaft Arbeitgeber und
Arbeitnehmer frei und gleich und würden auf dieser Grundlage Verträge,
etwa einen Arbeitsvertrag schließen. Diese angebliche Vertragsfreiheit
ist aber nicht gegeben, da zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern ein
Machtgefälle besteht. Eine angebliche Gleichheit zwischen Arbeitnehmer
und -geber anzunehmen, ist geradezu zynisch. Die Ausgebeuteten in den
Textilfabriken in Bangladesch nähen nicht freiwillig bis zu 16 Stunden täglich
Textilien, für die sie einen Hungerlohn bekommen – sie tun es aus der
Not heraus, ihre Familien nicht anders ernähren zu können.

In den europäischen
Industrienationen gibt es zum Glück sozialpolitische Regularien
sowie Arbeitnehmerschutzgesetze, etwa einen gesetzlichen Mindestlohn.
Doch auch hier gehen Millionen Menschen einer Erwerbsarbeit nach, die
ihnen keine Selbstverwirklichung und Entfaltung ihrer Talente einbringt,
sondern der sie nur zu dem Zwecke nachgehen, ein Gehalt überwiesen zu
bekommen.
Durch die Einführung eines bedingungsfreien Grundeinkommens wird
die liberale Prämisse, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer ebenbürtig sind,
tatsächlich wahr. Wir gehen dabei von einer Grundeinkommensregelung
aus, die nicht nur das Existenzminimum abdeckt, sondern tatsächlich
existenzsichernd ist. In einem solchen System hat der Arbeitnehmer echte
Verhandlungsmacht. Ist der Lohn zu niedrig, die Arbeitsbedingungen oder
-zeiten unattraktiv, die Arbeitsatmosphäre unschön, so kann der potenzielle
Arbeitnehmer sich frei gegen das Jobangebot stellen – er ist ja durch
sein BGE finanziell abgesichert. Eine Parität zwischen Arbeitnehmer und
Arbeitgeber kann tatsächlich hergestellt werden. Womöglich führt ein BGE
sogar zu einer Umkehrung des gegenwärtigen Status Quo. Vielleicht müssen
sich Betriebe anstrengen und mit besonders attraktiven Angeboten
gezielt Mitarbeiter werben, um Stellen besetzen zu können. Während wir
derzeit ein Bieterrennen nach unten haben – Arbeitnehmer konkurrieren
mit immer noch niedrigeren Löhnen um Jobs – so könnten Arbeitgeber
zukünftig mit höheren Löhnen oder anderen attraktiven Angeboten wie
Kinderbetreuung, gutes kostenloses Kantinenessen und ähnlichem um die
Beschäftigten konkurrieren.

Sozialstaatliche Maßnahmen wie ein hoher
Mindestlohn, Arbeitszeitgesetze und ähnliches können natürlich weiterhin
bestehen und Verbesserungen in diesem Bereich werden von linken
Parteien sicher auch gefordert werden. Es ist jedoch denkbar, dass sie tatsächlich
im Wesentlichen verzichtbar wären. Denn wenn das Damoklesschwert
„Arbeitslosigkeit“, das derzeit über der arbeitenden Bevölkerung
schwebt, seine bedrohliche Wirkung vollends verloren hat, wird ein massiver
Selbstbewusstseinsschub auf Seiten der Beschäftigten zu beobachten
sein. Will ein Unternehmen miserable Löhne bezahlen, bietet es keinen
Urlaubsanspruch oder fordert es massive Mehrarbeit in Form von Überstunden,
so würden die Beschäftigten, gestärkt mit einem BGE im Rücken,
selbstbewusst Nein sagen. Der Betrieb wird im schlimmsten Fall seine
Beschäftigten verlieren. Unternehmen werden auf einmal ein ureigenes
Interesse daran haben, Beschäftigte gut zu bezahlen und deren Bedürfnisse
zu berücksichtigen. Die Forderung nach einem freien Markt seitens
der Bürgerlichen und die Forderung nach umfassender sozialer Absicherung
und Schutz vor Ausbeutung seitens der politischen Linken sind ein
Widerspruch, der durch das BGE zumindest teilweise aufgelöst werden
kann, sobald auf dem Markt eine tatsächliche Vertragsfreiheit zwischen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern besteht.
Das aktuelle wohlfahrtsstaatliche Modell wirkt auf Arbeitslose demotivierend,
deprimierend und ist oft ein verschleiertes Subventionsprogramm
für die Wirtschaft, statt eine effektive Hilfe für Betroffene. Wer Sozialleistungen
wie Hartz IV erhält und seinen Pflichten nicht nachkommt, etwa zu
wenig Eigenbemühungen bei der Suche nach einem Arbeitsplatz zeigt, kann
sanktioniert werden, das heißt, ihm wird ein Teil seiner Bezüge gestrichen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 5.11.2019 entschieden,
dass Totalsanktionen verfassungswidrig sind. Arbeitslose leben
von Sozialleistungen, die aus Steuergeldern der arbeitenden Bevölkerung
erworben werden. Man mag von Leuten wie Arno Dübel, die seit 30 Jahren
von Arbeitslosengeld leben und in Talkshows offen sagen, dass sie keine
Lust auf Arbeit haben, halten was man mag.

Fest steht: Diese Leute sind
zum einen eine winzige Minderheit und zum anderen ist der sicherste Weg,
um solche Personen dauerhaft zu demotivieren, der, Sanktionen zu verhängen.
Wie kommt man überhaupt auf die absurde Idee, dass Bestrafung
motivieren kann? Die Wahrscheinlichkeit, dass ein ALG II- Bezieher, der
zu wenig Eigenbemühungen zeigt, durch Sanktionierungen mehr Bewerbungen
schreibt, ist wesentlich geringer als die, dass der Betroffene das
Jobcenter und vielleicht „das System“ als seinen Feind ansieht und lieber
die 30 % Kürzung akzeptiert, als noch in irgendeiner Weise Eigenbemühungen
zu tätigen. Der Betroffene wird sich in einer Opferrolle einrichten,
die eine gefährliche Radikalisierung der Betroffenen zur Folge haben kann.
Für den Frieden in der Gesellschaft ist auch das eher suboptimal.

Zum anderen ist der gegenwärtige Sozialstaat oft ein verschleiertes
Konjunkturprogramm für die Wirtschaft. Über Eingliederungszuschüsse
bekommen Unternehmen, die einen Arbeitslosen einstellen, bis zu 50 %
der Lohnkosten bis zu 12 Monate lang vom Staat finanziert. Wer länger als
sechs Jahre arbeitslos ist, kann durch §16e SGBII gefördert werden, was
heißt, dass das Jobcenter bis zu fünf Jahre lang 100 % der Lohnkosten
übernimmt.

Immerhin muss hierfür sichergestellt werden, dass keinem
regulären Arbeitnehmer die Stelle genommen wird, doch sind profitorientierte
Unternehmen oft gewieft darin, Schlupflöcher in Gesetzen zu finden,
um Lohnkosten zu sparen.
Ein BGE wird aktuelle Trends wie Start-Up-Gründungen und digitales
Nomadentum befeuern. Die Freiheit von Geldsorgen wird Menschen beflügeln,
um selbstbestimmt ihr Leben und Arbeiten frei zu gestalten. Viele
Menschen mit einer Idee werden etwas gründen. Wenn 9 von 10 Start-
Ups scheitern und nur 1 von 10 Start-Ups dauerhaften Erfolg generiert,
ist bereits ein enormes Innovationspotenzial für die Wirtschaft zu erwarten.
Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass die Menschheit dringend
neue Technologien benötigt, um die Klimakatastrophe abzuwenden und
dennoch Wohlstand erhalten zu können, kann ein BGE hier die richtigen
Impulse setzen. Natürlich wird es zudem mehr ehrenamtliches Engagement
geben. Manche Menschen machen sich wenig aus Geld und ein BGE
würde sie in die Lage versetzen, ihr Herzensthema in Vollzeit zu betreiben,
auch wenn keine finanzielle Entlohnung winkt. Im Ehrenamtsbereich und
bei Künstlern und Musikern ist davon auszugehen.

Man kann ferner vermuten,
dass der Konservatismus als Einstellung im Laufe der Zeit immer
weiter an den Rand gedrängt und progressives Denken zunimmt. Konservativ
denkende Menschen sind laut neurobiologischer Forschung stärker
angstfixiert, während bei progressiv-liberal Eingestellten dasjenige Gehirnareal
stärker ausgeprägt ist, dass für die Wahrnehmung von Chancen und
Möglichkeiten verantwortlich ist. Ein BGE würde die fast schon normale
Existenzangst um die finanzielle Situation nehmen und eine Entwicklung
begünstigen, die Chancen erkennt. Ferner ist sogar zu vermuten, dass
egoistische Einstellungen ab- und altruistische Einstellungen zunehmen
werden. Wer Angst empfindet, dessen Empathie-Zentrum im Gehirn ist
auf inaktiv gestellt. Nicht umsonst arbeiten Rechtspopulisten mit Panikmache,
um Wählerstimmen zu gewinnen. In unserer Gesellschaft ist die
Sorge vor sozialem Abstieg, vor Jobverlust und Altersarmut eine von Millionen
Menschen geteilte Angst. Dies schafft nicht nur individuelles Leid,
es verhindert mutmaßlich vielfach auch die Entwicklung von empathischethischen
Haltungen gegenüber Mitlebewesen.

Sogar eine Erhöhung der
Spendenbereitschaft für karitative Zwecke ist nach Einführung eines BGE
wahrscheinlich. Wer sicher weiß, dass auch im nächsten und übernächsten
Jahr das Geld aufs Konto überwiesen wird, der ist in guten Zeiten viel eher
bereit, etwas zu geben.

  • geschrieben von Jens Mayer